Dienstag, der 13. Dezember 2011
13. Dezember 2011Verkaterter Russischer Bär
Russland- das klingt wie Abenteuer, Wodka, und Kaviar. Russland, das war früher die Inkarnation des Bösen für die einen, der angeheiratete „Große Bruder“ für die anderen. „Von der Sowjetunion lernen, heißt: Siegen lernen!“ lernte ich damals noch in der Schule neben einem soliden Grundwortschatz an nützlichen und unnützen Vokabeln.
Vor 20 Jahren zerbröselte dann das Riesenreich in seine Bestandteile und versuchte seinen neuen Platz in der Weltgeschichte einzunehmen. Damals war ich schon einmal mit dem Fahrrad sechs Monate im Land und konnte 1992 den Verfall in sechs Monaten studieren, der Rubel stürzte von April bis September von 1: 30 auf 1: 500. und es war nichts wie es mal war. Die Menschen nahmen es gelassen, es war eine Reise damals von einer Einladung zur anderen, Aufbruchstimmung war zu spüren, wie überall in Osteuropa.
Wo das Land jetzt angekommen ist, das wollte ich mir mit eigenen Augen ansehen und nicht aus dem Touristenbus auf dem holprigen Asphalt zwischen Nowgorod, Petersburg und Moskau oder hinter den Scheiben der Transsibirischen Eisenbahn, in der der klassische grusinische Schwarztee durch die gleichen Teebeutel ersetzt wurde, die wir auch in unserem Supermarkt um die Ecke finden.
Also habe ich wieder drei Monate das Land mit dem Fahrrad bereist. Aus dem Baltikum kommend, ging es über die Hansestädte Pskow und Novgorod bis nach Moskau. Von dort führte dann mein Weg nach Osten über Kasan bis zum Ural und nach Jekatarienburg; weiter über den europäischen Tellerrand hinaus über Omsk und Novosibirsk nach Irkutsk an den fernen Baikalksee und schließlich über Burjatien in die Mongolei.
Die großen historischen Städte wollte und habe ich gesehen, vor allem aber interessierte mich das Leben in Dörfern und Kleinstädten und das wollte ich mit der Kamera festhalten. Die Erlebnisse und Eindrücke sind umwerfend in einem Land, das zerrissen von Widersprüchen ist, die größer nicht sein können. Stagnation und Verfall, das waren die ersten Eindrücke, noch ganz im Westen und das hat sich fortgesetzt bis ins tiefste Sibirien.
Während Moskau die wohl weltweit größte Dichte an luxuriösen Geländewagen der Marke „Hummer“ hat, hängt der Rest des Landes an der Wodkaflasche. Das Straßennetz ist mehr als morbide, die Hauptverbindung von Europa nach Moskau ist eine Piste aus Löchern mit Asphaltresten, so als fürchte man immer noch den Einfall faschistischer Horden, denen man den Zugang zur Hauptstadt unmöglich machen will. Die Dörfer, um 30 % entsiedelt, verfallen, die schönen alten Holzhäuser, straßenzugweise. Die Leute leben autark von ihren Kartoffeln und dem Gemüse aus dem Garten und auf dem Markt verkaufen alte Männer und Frauen einen halben Eimer Kartoffeln, zwei Bund Zwiebeln und drei Stück Rote Beete, es muss halt nur für den Wodka am Abend reichen. Ein alter Mann in Jekatarienburg sagt mir: „Euch geht es gut in Deutschland, dabei haben wir Russen den Krieg gewonnen und ihr habt ihn verloren!“ Die Stimme klingt nicht nach Hass, nur nach Verbitterung und depressiver Traurigkeit. Man ruht sich immer noch aus, auf dieser großen vaterländischen Leistung: „Niemals und nichts vergessen!“ springt dem Resisenden landesweit von Plakaten entgegen, die Soldatenfriedhöfe sind jedoch ungepflegt und verwildert. Dafür findet man überall noch Lenin, in jedem Dorf und jeder Stadt gibt es noch eine Statue in der Leninstraße oder auf dem Leninplatz. Das Mausoleum ist immer noch eine Attraktion auf dem Roten Platz. Wachsbleich ruht der Oktoberrevolutionär wie Schneewittchen in seinem Glassarg, die Ordnungskräfte, die den Eingang regulieren sind rüde und unfreundlich und ranzen mich an: „Im Mausoleum sei fotografieren verboten!“ Mein Einwand, dass wir uns immer noch weit vor dem Mausoleum auf dem Roten Platz befänden, wird weggewischt und die uniformierte Matrone überprüft die Löschung des Bildes, auf der sie die Zigarrette im Mund hatte während sie das Gepäck eines Touristen durchwühlte. „Lenin lebt“ – nach dem Rundgang an der Kremelmauer begegnet mit der Genosse und schüttelt mir die Hand für 10 Rubel, Foto ausdrücklich genehmigt!
Je weiter weg von der Hauptstadt, um so größer wird der Kult. Die Hauptattraktion der Stadt Ulan-Ude im fernen Burjatien ist immer noch der größte Leninschädel der Welt. Stalins grab findet man an der Kremelmauer, nicht weit Juri Gagarin entfernt und im fernen Sibirien in einer schäbigen Stadt namens Ischim findet sich auch noch eines der letzten Stalindenkmale im Lande. Man wünscht sich schon wieder einen großen Führer und jemandem der der Welt zeigt, was die Russen wirklich können und was für tolle Burschen sie doch alle sind. Die Welt lacht über Putin mit freiem Oberkörper beim Angeln oder beim Erlegen eines Tigers.
Radfahren in Russland ist ein Abenteuer, aber anders als erwartet. Wirklich aufgeschlossene Begegnungen sind selten, das war vor 20 Jahren noch anders, immer wieder wurde ich damals fast von der Straße wegefangen und eingeladen, das passiert uns heute kaum noch. Manchmal hält ein Lada und die Besatzung springt heraus und glaubt einfach nicht, dass wir in Berlin losgefahren sind und noch weniger, dass wir bis nach Peking wollen. Die Wodkaflasche wird gezückt und die Becher machen die Runde, halbvoll und runter und dann noch einmal, diesmal mit dem Fahrer und es waren nicht seine ersten „sto gramm“ heute.
Stagnation ist das prägende Bild, Winterschlaf mitten im Hochsommer. Wer noch Arbeit hat, dödelt vor sich hin, Pfusch und Schlamperei. Keine Baustelle, die ordentlich vollendet wird. Noch vor Einzug bröckelt der Putz. Der „Service“ in Hotels, Läden und Restaurants ist mürrisch und müde, alte Sowjetmentalität ist noch lange nicht ausgerottet, sondern wieder im Erwachen. In winzigen Städten kostet ein schrottiges Hotelzimmer 45 €, das noch nicht einmal Jugendherbergsstandard hat, warmes Wasser gibt es nicht. Im Sommer, da werden immer die Leitungen repariert…oder wohl eher nicht.
Bis zum Ural sieht es dann etwas besser aus, hier stehen die Industriezentren des Landes, hier wird noch produziert und den Menschen geht es besser. In Jekatarienburg tobte der Bauboom, allerdings ist der seit ein paar Jahren zum Erliegen gekommen und Ruinen nicht vollendeter Geschäftsbauten und ein halbfertiger Fernsehturm prägen das Stadtbild. Hinter dem Ural beginnt eben das Freilichtmuseum des zerfallenen Sozialismus. 60 % Arbeitslosigkeit kompensiert durch 42%igen Wodka. Das einstmals vorbildliche Gesundheitswesen existiert nicht mehr. Wer nicht zahlt, bekommt keine Hilfe. Warum also ins Krankenhaus, wenn man sich die Seele vorher aus dem Leib saufen kann. „Eigentlich sind alle kriminell“ jammert der Poizist, der mir den Weg zu einer Herberge in einem größeren Dorf zeigt. „Aber was sollen die jungen Leute tun, Jobs gibt es nicht und Geld braucht man für Benzin und Wodka, und in den Städten kommen die Drogen noch dazu!“
Genauso museumsreif wie die zerfallenden Holzhäuser ist der Fahrzeugpark, Lada heißt der hier bevorzugte Fahrzeugtyp, gefolgt vom „Rost-quietsch“, Moskwitsch, ab und an ein Wolga. Die Modelle haben oft mehr Jahre auf dem Buckel als die Fahrer, aber der Wagen, der rollt. Und noch zu schnell, die Straßen sind gesäumt von Gräbern, die „Opfer“ meist nicht über 30. Die Landschaften sind unendlich in allen Beziehungen, unendliche Weite, unendliche Birkenwälder, unendliche Hügel, unendliche Straßen vom Ural bis zum Baikalsee.
Manchmal ist es schwer ein Restaurant oder einen Imbiss zu finden, doch es gibt überall kleine Kioske, die neben einem mehr als weiten Sortiment an Wodka auch Lebensmittel verkaufen. Meist sind sie gesichert wie eine Bank. Dicke Gitter trennen Ware und Verkäufer vom Kunden, bestellt und bezahlt wird durch ein kleines Loch darin. In den Supermärkten patroullieren Sicherheitsleute.
Kaum ein Auto parkt in den kleinen Städten einfach auf der Straße vor dem Haus, dafür gibt es spezielle „Stojankas“ Abstellflächen, diese sind kostenpflichtig und mit Zaun, Wachpersonal und Hunden gesichert.
Großer Baikal, wie habe ich darauf gewartet an deinem Ufer zu stehen, von Irkutsk noch einmal 75 bergige Kilometer bis an das größte Süßwasserreservoir der Welt. Doch dann in Listwijanka, ein 2 Meter breiter Strand, überall Müll und leere Flaschen, Bauruinen. Am Wochenende fallen die Irkutsker ein, man kommt nicht mehr über die Straße und alle fahren mit dem Auto bis direkt ans Wasser, breiten daneben eine karierte Decke aus und hinterlassen Müll, den keiner wegräumt. Die Luft ist rauchgeschwängert vom Qualm der Räucherkästen. Der Omul wird überall geräuchert, verkauft und gegessen. Ein leckeres Fischchen, eigentlich dürfen nur große Fische gefangen werden, doch das Mindestmaß von 35 cm hat kaum einer von den Tieren, die hier auf dem Grill brutzeln.
Das Wasser im See scheint aber klar und sauber zu sein, auch wenn im Januar ein Gesetz ausgelaufen ist, welches die Einleitung von Idustrieabwässern in den See für zwei Jahre verboten hatte, jetzt dürfen die Zellulosefabriken ihren Dreck wieder fast ungefiltert einleiten. Es ist wie überall in Russland, die scheinbare Unendlichkeit liegt über allem, wen stören die wilden Müllkippen, wenn danach 50 Kilometer nur Wald, Wald und Birken folgen.
Es war ein Erlebnis in Russland Rad zu fahren, der Verkehr war rauh, aber nicht so hart wie erwartet, die LKW schwarten meist dicht am Radler vorbei, man ist aber nicht aggressiv, es fehlt einfach an Radfahrern, als das man den Umgang mit dieser Spezies gewohnt sein könnte. Es war ein Erlebnis in Russland den Zerfall zu sehen, den Pessimismus und die Satgnation, Städte so grau wie zu Zeiten des Kalten Krieges; im Nachbarland, der Mongolei geht es dagegen aufwärts und China ist ein Kulturschock im positiven Sinne, aber das ist eine andere Geschichte.
Zurück in Berlin blickt man auf den Nachrichtenticker über die Wahlen, es hat sich Nichts geändert in Russland, Putin hat sich wieder an die Macht geschaukelt, Vorwürfe der Wahlfälschung gibt es, Proteste werden aufgelöst, das Internet wird zensiert. Die Wahlbeteiligung war so gering wie nie, mich wundert es nicht und auch der einfache Mann erwartet nichts mehr als seine Flasche Wodka.
Oder vielleicht hat sich doch etwas geändert, wir werden es in den nächsten Wochen sehen, was aus den beginnenden Protesten wird, ob der Russische Bär aus dem Winterschlaf erwacht oder sich nur träge auf die andere Seite wälzt.
Meine Fotos habe ich in Schwarz-Weiß gehalten, weil es die Stimmung im Land besser wiedergibt. Grau und schwermütig wie das Land selbst, könnten sie ebenso aus den 60er Jahren stammen.